Vertraue meiner Webcam! BEM-Gespräche in Coronazeiten

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Gesetzgebung und Rechtsprechung fordern dazu auf, das bEM-Verfahren und insbesondere das bEM-Gespräch als einen „ergebnisoffenen Suchprozess“ zu gestalten, in den der bEM-Berechtigte seine eigenen Gedanken und Vorschläge für eine Überwindung seiner Arbeitsunfähigkeit, die Vorbeugung einer erneuten Arbeitsunfähigkeit und den Erhalt seines Arbeitsplatzes einbringen soll. Erfahrene bEM-Berater wissen, dass eine Umsetzung dieser gut gemeinten Forderung nur dann gelingen kann, wenn dieser inhaltliche Austausch in eine vertrauensvolle Beziehung mit dem bEM-Berechtigten eingebettet wird.

Besondere Herausforderung durch technische Distanz

In der aktuellen Coronasituation stellt dies den bEM-Berater allerdings vor besondere Herausforderungen. Gilt es doch, die hierfür erforderliche zwischenmenschliche Nähe nicht in der notwendigen technischen Distanz zu verlieren und diese damit auch zu einer gefühlten Distanz werden zu lassen.

Viele bEM-Berater stehen daher vor grundlegenden Fragen:

Kann der Aufbau einer tragfähigen Beziehung mit dem bEM-Berechtigten unter diesen Umständen überhaupt gelingen? Welche Einschränkungen und Auswirkungen sind bei virtuellen bEM-Gesprächen besonders zu beachten? Und wie kann auf diese angemessen reagiert werden?

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Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass der Aufbau einer tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehung auch unter eingeschränkten Bedingungen möglich ist. Dies belegen Brieffreundschaften, angenehme Telefongespräche oder ein netter E-Mail-Austausch. Beziehung geschieht immer und irgendwie, wenn Menschen miteinander in Kontakt treten. Ob sich diese Beziehung dann allerdings auch positiv gestaltet, hängt davon ab, wie sich die Gesprächspartner wechselseitig begegnen. Geschieht diese Begegnung unter dem Einsatz technischer Hilfsmittel wie Bildschirm, Mikrofon und Webcam, so ergeben sich hieraus einige beachtenswerte Besonderheiten.

Die Kontaktaufnahme

Bei virtuellen bEM-Gesprächen fällt die Kontaktaufnahme häufig länger aus. Manchmal sind sogar mehrere vorbereitende Kontakte notwendig. Das ist allerdings nicht unbedingt von Nachteil, da die gesprächseinleitende Kontaktaufnahme mitentscheidend für die Grundlage der weiteren Beziehung ist. Vertrauen zu bilden und zu halten erfordert oft auch mehrere positiv verlaufende Begegnungen des „Kennenlernens“, für die diese zusätzlichen Kontakte genutzt werden können.

Neben der eigentlichen Terminabsprache ist zu klären, über welches Kommunikationsprogramm das virtuelle bEM-Gespräch stattfinden soll, welche technischen Voraussetzungen bei dem bEM-Berechtigten vorliegen und wie diese mit der technischen Ausstattung des bEM-Beraters harmonieren. Die notwendige Klärung dieser Fragen bietet dem bEM-Berater eine Möglichkeit, mit dem bEM-Berechtigten in einen intensiveren Austausch einzutreten, ohne dessen Belastungsproblematik in den Mittelpunkt stellen. Die Erörterung der technischen Möglichkeiten und der Kenntnisse des bEM-Berechtigten, die gemeinsame Lösung auftretender Schwierigkeiten und die diesbezügliche Unterstützung des bEM-Beraters geben dem bEM-Berechtigten Gelegenheit, bereits jetzt einen ersten Eindruck von dessen Persönlichkeit und seinen Umgangsweisen zu gewinnen.

Dies kann durch einen vorbereitend vereinbarten Termin für einen „Online-Technik-Check“ noch weiter vertieft werden. Ein solcher Termin bietet die (nochmalige) Möglichkeit, unklar gebliebene Aspekte des bEM-Verfahrens, etwa dessen Freiwilligkeit oder den bestehenden Datenschutz, mit dem bEM-Berechtigten zu erörtern, aber auch Unsicherheiten und Ängste im Hinblick auf das anstehende Gespräch anzusprechen und aufzufangen. Insbesondere eine Darstellung des voraussichtlichen Gesprächsablaufes und vorbereitende Hinweise auf die geplanten Fragen und Themen können den Boden für ein entspanntes bEM-Gespräch vorbereiten.

Die Teilnehmerzahl

Bereits bei persönlichen Treffen zeigt sich, dass die Anwesenheit vieler Personen (Arbeitgebervertreter, Vorgesetzte, Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung usw.) und der dadurch hervorgerufene „Tribunal-Charakter“ den anfänglichen Beziehungsaufbau leicht beeinträchtigen kann. Dies gilt erst recht für virtuelle Treffen. Der bEM-Berechtigte befindet sich in einer ungewohnten und belastenden Ausnahmesituation, in der er auf eine vermehrte Beobachtung der (körpersprachlichen) Reaktionen seiner Gesprächspartner angewiesen ist, um seine Unsicherheit zu überwinden und Vertrauen zu finden. Bei einer Galerieansicht des Bildschirms mit der Darstellung vieler kleiner Porträtabbildungen ist dies nur sehr bedingt möglich.

Es sollte daher, gemeinsam mit dem bEM-Berechtigten, noch einmal darüber nachgedacht werden, wie viele Teilnehmer bei dem anstehenden virtuellen bEM-Gespräch tatsächlich anwesend sein müssen, um einer Überforderung des bEM-Berechtigten vorzubeugen.

Die Sitzordnung

In Übereinstimmung mit psychologischen Forschungsergebnissen wird für persönliche Treffen ein runder Tisch, ersatzweise eine 90°-Über-Eck-Anordnung zwischen dem bEM-Berechtigten und dem hauptsächlichen Gesprächsführer empfohlen. Die schlechteste aller Möglichkeiten ist eine konfrontationsfördernde gegenüberliegende Sitzposition. Genau diese wird jedoch durch die von den eingesetzten Webcams gelieferten Frontalaufnahmen hervorgerufen. Hinzu kommt, dass der bEM-Berechtigte oft keinen Zugang zu den begleitenden Gesten und Verhaltensweisen seiner Gesprächspartner hat, um diesen ungünstigen Eindruck zu revidieren. So naheliegend es daher auch scheinen mag, ist an dieser Stelle doch darauf hinzuweisen, dass ein ehrlich gemeinter positiver, manchmal auch mitfühlender und unterstützender Gesichtsausdruck des bEM-Beraters häufig das einzig mögliche körpersprachliche Mittel ist, dem entgegenzuwirken.

Der virtuelle Besprechungsraum

Eine angenehme Gestaltung des virtuellen Besprechungsraums lässt sich ebenfalls nur ansatzweise verwirklichen. Bei der Teilnahme mehrerer bEM-Berater kann es hilfreich sein, darüber nachzudenken, sich auf ein gemeinsames und ansprechendes Hintergrundbild zu verständigen. Bei einem „Wenige-Augen-Gespräch“ sollte dies aber gegen eine virtuelle Übermittlung des jeweiligen bEM-Beraters in seiner tatsächlichen Arbeitsumgebung abgewogen werden, um auf diese Weise ein Stück Authentizität in das Gespräch zu bringen.

Der Blickkontakt

In einem persönlichen Gespräch wird das jeweilige Sprechen und Zuhören der Beteiligten häufig durch den (unbewussten) Einsatz ihres gegenseitigen Blickkontaktes reguliert. Diese Funktion entfällt im virtuellen Raum fast vollständig. Um dem Gesprächspartner den Eindruck zu vermitteln, dass er direkt angesehen wird, ist es von beiden Seiten erforderlich, in die Kamera und nicht in das Gesicht des Gesprächspartners zu schauen. Geschieht dies, können aber körpersprachliche Reaktionen, insbesondere also die Blickrichtung des anderen, nur noch bedingt wahrgenommen werden.  

Hier hilft es, sich stärker an den jeweiligen Gesprächspausen zu orientieren. Schweigt der bEM-Berechtigte im Anschluss an eine Information oder eine Frage seines Beraters, so bedeutet dies zumeist, dass er hierüber ungestört nachdenken möchte. Er sollte daher auch nicht durch weitere Informationen oder anderweitige Fragen unterbrochen werden. Ist der bEM-Berater in dieser Hinsicht unsicher, kann er sich ausdrücklich und fürsorglich danach erkundigen, ob der bEM-Berechtigte Zeit für seine Überlegungen benötigt und in dieser Gesprächspause schweigen.

Die Zeit zwischen den Gesprächen

bEM-Berechtigte mit schwereren Erkrankungen leiden in der derzeitigen Pandemielage unter Umständen noch stärker an der erzwungenen (sozialen) Isolation. Die Kontaktaufnahme mit ihren behandelnden Ärzten ist erschwert und die Durchführung stationärer oder ambulanter Rehabilitationsmaßnahmen ist ausgesetzt oder reduziert. Es kann daher erforderlich sein, kleinschrittigere virtuelle Kontakte zu vereinbaren, um das Durchhaltevermögen des bEM-Berechtigten durch einen intensiveren Einbezug in die Maßnahmenplanung zu stärken. So könnten gemeinsam nähere Informationen über eine angedachte Maßnahme im Internet recherchiert und/oder Anträge/Formulare am Bildschirm gemeinsam online bearbeitet werden.

Fazit

Virtuelle bEM-Gespräche stellen insbesondere durch den Mangel an Körpersprache eine Herausforderung dar. Der Aufbau einer offenen und vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre wird hierdurch erschwert. Dennoch lassen sich auch virtuelle bEM-Gespräche konstruktiv und zielführend gestalten.

Folgende Tipps können helfen, mit den technischen Einschränkungen angemessen und konstruktiv umzugehen:

  • Mindestens ein ausführliches, ggf. sogar mehrere Vorgespräche vereinbaren, um die technischen Voraussetzungen zu klären, aber auch Unsicherheiten und Ängste in Bezug auf das anstehende Gespräch aufzufangen
  • Möglichst wenig Teilnehmer einplanen und damit einer Überforderung des bEM-Berechtigten vorbeugen
  • Die beziehungshemmende virtuelle Sitzposition durch den verstärkten Einsatz einer bewussten und authentischen Körpersprache, insbesondere des Gesichtsausdrucks, auffangen
  • Die Gesprächsatmosphäre des virtuellen Besprechungsraumes durch eine gezielte Auswahl des eigenen Hintergrundes aktiv gestalten
  • Kamerabedingte Einschränkungen des direkten Blickkontakts durch verarbeitungsfördernde Gesprächspausen ausgleichen
  • Ggf. kurzfristigere virtuelle Termine vereinbaren, um eine krankheitsbedingte Isolation zu verringern und die Handlungsmotivation aufrechtzuerhalten
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