Reverse Mentoring

von: Bernhard Zwosta Trainer, Coach und Mediator

 

Sicherlich kennen die meisten von Ihnen den Begriff des Mentoring. Im klassischen Verständnis wird Wissen weitergegeben, um dem anderen zu helfen, in einen Job, in ein Projekt usw. zu kommen. Typische Anfängerfehler sollen vermieden werden, ein schnelleres Lernen soll ermöglicht werden und es gäbe noch viele Beispiele, wann Mentoring sinnvoll ist.

Hand aufs Herz – läuft das bei Ihnen so? In der Firma, im Betriebsrat, in den Ausschüssen, in den Arbeitsgruppen, zusammen mit dem Arbeitgeber? Oder sind Sie auch an dem Punkt, an dem so viele Menschen sind, die ihr Wissen nicht weitergeben, weil sie es für sich behalten wollen, um einen eigenen Vorteil aus der Nicht-Weitergabe zu haben?
Ich denke, es ist sehr wertvoll, sich diese Fragen mal zu stellen und in sich selbst und im Team hineinzuhorchen, wie die Realität aussieht.

Nun gibt es seit einiger Zeit den Begriff des „Reverse Mentoring“. Wenn man den googelt, dann kommen schnell die Antworten, dass Ältere von den Jüngeren lernen.

Klassische Mehrwerte für Führungskräfte z. B.:

  • Neue Fähigkeiten entdecken
  • Den Kulturwandel vorantreiben
  • Ohne Hierarchiebarrieren diskutieren
  • Die Vielfalt fördern
  • Flexibel weiterbilden

Am Ende entscheidet die Kompetenz und nicht das Alter.

Genau das ist der Punkt, den wir dabei berücksichtigen sollten. Es entscheidet die Kompetenz. Dabei kommt es eben nicht auf das Alter alleine an, das würde zu kurz greifen. Genauso wie bei dem Begriff „Diversity“ oft nur die Kernpunkte berücksichtigt werden, die überall zu lesen und zu hören sind. Es geht doch eher darum, dass wir ALLE gegenüber ANDEREN offen sind, dass wir deren Kompetenzen und vor allem den Menschen sehen. So haben wir die Chance, ANDERE offen wahrzunehmen und von ihnen zu lernen.

Ich selbst arbeite sehr gerne mit jüngeren Menschen zusammen, beginne Projekte mit ihnen, denke mich in Workshops in deren Gedankenwelten, um meinen Horizont ständig zu erweitern. Das geht los mit digitalen Themen (Wie funktioniert eigentlich MS Teams richtig? Wie spielt MS Teams mit SharePoint zusammen? Wie organisiere ich Kommunikation in der heutigen Zeit, so dass ich alle Menschen im Betrieb erreichen kann?). Sender und Empfänger, das kennen wir aus der Kommunikationslehre (Friedemann Schulz von Thun). Der Austausch macht die Qualität und das Verstehen, nicht das Mitteilen alleine.
Wenn ich mir die Gedankengänge meiner beiden Jungs (17 und 19 Jahre alt) anschaue und ich mit ihnen spreche, dann merke ich schnell, dass sie vollkommen anders an Dinge herangehen, als ich das in meinen jungen Jahren gemacht habe. Sicherlich haben sie von mir gelernt, sicherlich haben sie dadurch ihre ersten Schritte und ihre ersten Erfahrungen gemacht. Aber es wäre total falsch, wenn sie meine Lehren einfach weiterleben würden. Es kommen ihre anderen Lernerfahrungen dazu (Schule, Freunde, andere Eltern, Sportverein, usw.). Ich als Vater kann von deren neuen Erkenntnissen profitieren, wenn ich offen dafür bin, was sie mir erzählen und beibringen können. Dann wachsen wir beide und erweitern unseren Horizont. Wir können uns austauschen und zusammen einen wesentlich breiteren Blick auf die Dinge gewinnen.

Viele Unternehmen versuchen in den Personalabteilungen, in den Personalentwicklungs-Einheiten sogenannte „Reverse Mentoring“-Programme einzuführen. Ja, das ist durchaus richtig und hat seine Daseinsberechtigung. Es öffnet die Augen, es schafft Möglichkeiten des Austauschs, es bringt uns dazu, erste Erfahrungen mit dem Thema zu machen. Meistens sind es freiwillige Programme. Auch hier wieder: Hand aufs Herz – wer geht da hin? Diejenigen, die offen sind dafür, weil sie sich freiwillig entscheiden hinzugehen.
Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch, ich möchte niemanden dazu zwingen.  Aber am Ende des Tages ist es die innere Haltung, die Offenheit gegenüber den anderen Menschen zu entwickeln oder – noch besser – wieder zu entdecken (denn als Kind hatten wir diese ganz automatisch).

Lassen Sie uns unser Wissen weitergeben, lassen Sie uns das Wissen der anderen aufnehmen und wir werden alle zusammen ein größeres Wissen erhalten. Dieses können wir zum Wohle der Menschen, zum Wohle der Belegschaft, zum Wohle unserer Kunden und uns verbundenen Organisationen und deren Menschen einsetzen. Diese Haltung ist so viel mehr wert.

Sie können damit gut in Ihrem geschütztem Raum des Betriebsrats anfangen und das dort einfach mal ausprobieren. Wie oft erlebe ich, speziell bei Betriebsräten, dass die ALTEN tatsächlich ALTKLUG mit ihrem ALTEN Wissen versuchen, den JUNGEN die ALTE WELT beizubringen. Das passt einfach nicht in unsere hochmoderne, super agile Welt, eine Wirtschaft, die sich so schnell ändert, wie nie zuvor, in einen Arbeitskräftemarkt, der so komplett anders aussieht, als in den letzten Jahrzehnten. Wir sind alle zusammen gut beraten, uns dem NEUEN zu stellen und selbst agil zu werden, besonders in den Betriebsräten. Unter Berücksichtigung dessen natürlich, dass wir uns nichts einreißen, was in den vorangegangenen Jahrzehnten durchaus als SEHR GUT gewachsen ist. Aber auch diese Dinge sind zu überdenken und nicht einfach nur festzuhalten.

Liebe ältere Kolleg*innen: Fangen Sie bitte an, die JUNGEN zu hören und zu verstehen.
Liebe jüngere Kolleg*innen: Sagen Sie nicht von Anfang an, dass die ALTEN alles falsch machen.

Lernen Sie gemeinsam voneinander und machen Sie ZUSAMMEN das Beste daraus. Das ist es wert, das ist in meinen Augen REVERSE MENTORING – es geht nicht nur um ALT und JUNG, es geht um den Austausch und der Erweiterung der gemeinsamen Kompetenzen.

Und ganz nebenbei werden Sie sich besser kennenlernen, sich besser verstehen, sich mit anderen Augen sehen und dabei feststellen: Es gibt eine Menge an sehr positiven Schnittstellen, aus denen heraus wir gemeinsam etwas Positives für heute und die Zukunft gestalten können.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen offene Augen und Ohren. Machen Sie was draus .