Sonderkündigungsschutz wegen Schwangerschaft?

ArbG Hamm, Urteil vom 25.08.2023 - 2 Ca 179/23 (nicht rechtskräftig)

Der Fall:

Mit der am 15.02.2023 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage begehrt die Klägerin noch die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch „eine Kündigung zum 28.02.2023“ beendet worden ist. Die 39 Jahre alte Klägerin ist seit dem 01.08.2022 bei der Beklagten als Führungskraft zu einer Bruttomonatsvergütung i. H. v. 15.000 € tätig.

  • Mit Mail vom 19.01.2023 teilte sie der Beklagten mit, dass sie schwanger und krank sei und legte im weiteren Verlauf eine Bescheinigung ihres Hausarztes vom 17.02.2023 vor, wonach die Schwangerschaft sowie ein voraussichtlicher Entbindungstermin am 19.10.2023 bestätigt wurden.
  • Eine weitere Bescheinigung vom 01.08.2023 bestätigt die Schwangerschaft der Klägerin und weist als voraussichtlichen Entbindungstermin den 06.10.2023 aus.
  • Eine dritte ärztliche Bescheinigung vom 10.02.2023 bestätigt eine bestehende Schwangerschaft, ohne einen Entbindungstermin zu benennen.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist belastet. Die Beklagte teilte der Klägerin bereits am 11.01.2023 mit, dass sie sich von ihr trennen wolle, und bat sie, am 23.01.2023 im Betrieb zu erscheinen, um noch offene Fragen zu klären und das Kündigungsschreiben in Empfang zu nehmen. Die Klägerin erschien nicht. Daraufhin erstellte die Beklagte ein Kündigungsschreiben vom 23.01.2023 und entsandte einen Mitarbeiter zum Wohnort der Klägerin mit dem Auftrag, das Kündigungsschreiben zuzustellen, was geschah. Die Klägerin meint, die Kündigung sei jedenfalls wegen ihres bestehenden Sonderkündigungsschutzes unwirksam. Die Arbeitgeberin bestreitet u. a. die Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung.

Die Lösung:

Die Kündigungsschutzklage hatte Erfolg. Die Kündigung der Arbeitgeberin ist unwirksam.

  • Zwar galt das KSchG für das Arbeitsverhältnis noch nicht, da die Klägerin nicht länger als 6 Monate für die Beklagte tätig war (§§ 1, 23 KSchG).
  • Die Kündigung ist aber wegen bestehender Schwangerschaft der Klägerin zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung gem. § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MuSchG unwirksam. Dass die Klägerin schwanger war und ist, ergibt sich aus mehreren ärztlichen Bescheinigungen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BAG (vgl. zuletzt BAG, Urteil vom 24.11.2022 – 2 AZR 11/22) wird der Beginn des Kündigungsverbots bei natürlicher Empfängnis berechnet, indem von dem ärztlich festgestellten voraussichtlichen Tag der Entbindung – ohne diesen mitzuzählen – um 280 Kalendertage zurückgerechnet wird. Selbst unter Berücksichtigung eines Geburtstermins erst am 19.10.2023 war die Klägerin offensichtlich und rechnerisch zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 25.01.2023 schwanger.
  • Der Beklagten war am 25.01.2023 auch durch Mail der Klägerin vom 19.01.2023 bekannt, dass diese schwanger war. Dies war ausreichend i. S. v. § 17 Abs. 1 S. 1 MuSchG (vgl. dazu BAG, Urteil vom 24.11.2022 – 2 AZR 11/22, Rdnr. 37; Tillmanns/Mutschler, Praxiskommentar zum MuSchG und BEEG, 3. Auflage 2021, § 17 MuSchG, Rdnr. 25, 26). Der Mail war zwar keine ärztliche Bescheinigung beigefügt, dies war aber auch nicht erforderlich, um den besonderen Kündigungsschutz zu erhalten, zumal nach der Rechtsprechung des BAG selbst eine vorsorgliche Mitteilung der Arbeitnehmerin an den Arbeitgeber, sie sei „wahrscheinlich schwanger“ oder „eine Schwangerschaft werde vermutet“, ausreichend ist, um den Arbeitgeber vom Sonderkündigungsschutz – sollte er im Ergebnis bestehen – in Kenntnis zu setzen (vgl. BAG, Urteil vom 06.06.1974 – 2 AZR 278/73).

 

Hinweis für die Praxis: Der Arbeitgeber hat im Prozess vorgetragen, eigentlich habe man die Kündigung bereits vor Weihnachten aussprechen wollen, dies aber aus Rücksicht auf die Klägerin „wegen Weihnachten“ nicht getan. Im Dezember 2022 bestand noch kein Sonderkündigungsschutz, jetzt aber schon! Emotionen und Gefühle sind – wie man sieht – nicht immer gute „Berater“ bei der Personalarbeit!