Beratung durch den Betriebsrat - am Beispiel einer Beratung zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM)

 

730x300 - Mann am PC mit Brief - Hand am Kopf

Herr Koller ruft Sie an …

Sie sind Betriebsratsmitglied und nehmen selbstverständlich den Hörer ab. Vom anderen Ende der Leitung tönt eine erregte Stimme an Ihr Ohr, eine laute Mischung aus Angst, Wut und einem Durcheinander, aus dem Sie nicht schlau werden.

Sie haben noch 5 Minuten Zeit vor Ihrem nächsten Termin.

Der Anrufer hat offensichtlich ein Problem und erwartet Hilfe. Aus dem Wortschwall filtern Sie heraus, dass er Angst um seinen Arbeitsplatz habe. Gestern habe er einen Brief vom Arbeitgeber bekommen, weil er zu viele Krankheitszeiten habe. Sie kommen kaum zu Wort. Schließlich versuchen Sie, ihn mit einer Frage zu beruhigen. „Was steht denn in dem Schreiben drin?“ Sie schauen auf die Uhr. Sie haben noch 2 Minuten …

Nach einigem Geraschel erfahren Sie, was Sie schon vermutet haben: Es ist das Standardschreiben des Arbeitgebers an Kandidaten für das betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM). Sie unterbrechen seine Lesung: „Ah, hab’ mir’s schon gedacht. Sie bekommen das bEM angeboten. Seien Sie ganz unbesorgt. Das bEM kann Ihnen nicht schaden, im Gegenteil, man will Ihnen nur helfen. – Leider muss ich jetzt weg, hab’ einen wichtigen Termin, den ich nicht verschieben kann. Ich rufe Sie morgen wieder an. Kann ich Sie auf der Nummer erreichen, die ich auf dem Display sehe?“ …

Ende des Gesprächs. Und Sie haben, während Sie zu dem Termin hetzen, das dumpfe Gefühl, dass das Telefonat nicht optimal gelaufen ist.

Eine ganz gewöhnliche Situation im Betriebsalltag: Job, Ehrenamt, Termine und vieles, was noch dazwischenkommt. „Wann passt es Ihnen?“

Die Terminfrage regelt nicht nur den Termin

Nicht jeder, der sich an den BR wendet, fragt zunächst, ob der Angesprochene jetzt Zeit habe oder wann er einen Termin für ein Beratungsgespräch bekommen könne. Mancher legt gleich los. Es ist ja ein Kollege oder eine Kollegin, ob am Telefon oder in einer zufälligen Begegnung auf dem Flur oder in der Kantine. Diese Leute betonen doch immer, dass sie jederzeit – nicht nur zu den offiziellen Sprechzeiten – für ihre Kolleginnen und Kollegen da seien.

Mit solchen Situationen ist also zu rechnen. Was liegt näher, als sie zu vermeiden? Indem Sie zum Beispiel mit Zeitpuffer vor Terminen das Telefon auf AB umschalten; die Terminfrage für ein Beratungsgespräch stellen, ohne auf den Inhalt einzugehen:„Wenn Sie wollen, können wir uns gerne über das Thema / Ihr Anliegen näher unterhalten. Nur hier / jetzt ist es sehr ungünstig, weil …“ Angenommen, er will. „Wann passt es Ihnen?“ Er macht einen Vorschlag, Sie checken Ihren Terminkalender …

Warum geht das Ganze nicht kürzer? Sie schlagen dem Gesprächspartner einen Termin vor, fragen, ob dieser ihm passe, ggf. fragen Sie ihn zuvor nach seinen Arbeitszeiten. Fertig. Gewiss, so ginge es schneller. Aber die Entscheidung läge bei Ihnen, nicht beim Anrufer, den ich ab jetzt „Klient“ nenne.

Stellen Sie die Weiche auf Selbstverantwortung!

Stellen Sie gleich zu Beginn, ja schon bei der Terminierung eines Beratungsgesprächs die Weiche auf Selbstverantwortung des Klienten. Harmlose Informationsfragen können sich unversehens zu komplizierten Konfliktgeschichten auswachsen. Entscheidungen müssen getroffen werden, deren Folgen letztlich der Klient zu tragen hat, nicht der Berater. Nicht nach dem Muster, wer die Kompetenz oder die Macht hat, entscheidet, was wann wie zu tun ist, sondern derjenige, der das Problem hat und dafür eine Lösung sucht. Anders als in den Arbeitsprozessen liegen im Beratungsgeschäft Entscheidung und Verantwortung für das, was auf dem Weg zur Problemlösung geschehen soll, beim Klienten. Empowerment statt Helfersyndrom

Diese Erkenntnis muss auch unser Beratungsverhalten leiten. Dort, wo die Selbstverantwortlichkeit des Klienten nur schwach entwickelt ist und die Gefahr des „Delegierens“ droht („Mach du! / Entscheide du! Du weißt ja besser als ich …“), ist nicht Übernahme der Verantwortung angesagt – eine nicht zu unterschätzende Versuchung für Berater mit Helfersyndrom –, sondern geduldiger Aufbau von Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung („Empowerment“). Nur wenn der Klient hinter seiner Entscheidung steht, wird er die Kraft entwickeln, die damit verbundenen Belastungen, ggf. auch Nachteile („Risiken und Nebenwirkungen“), auf sich zu nehmen und durchzuhalten. Die Weiche in Richtung Selbstverantwortung ist gleich zu Beginn eines Kontakts mit dem Berater auf Selbstverantwortung des Klienten zu stellen. Schon die erste, eine scheinbar banale Frage: nach der Terminierung des Gesprächs, ist vom Klienten zu entscheiden, nicht – und sei es noch so praktisch – vom Berater.

Dies ist die erste Übung,oft auch für Sie in der Rolle des Beraters. Sie brauchen Geduld. Der betriebliche (Laien-)Berater tut sich oft selber schwer, dem Klienten Zeit zu lassen und nicht ergebnisfixiert ihm seinen Problemrucksack abzunehmen und selber zu schultern.

Gesprächsführung: Struktur statt Chaos

Die nächste, schon etwas größere Übung für Sie ist, in die Gespräche Ordnung zu bringen. Eine Struktur, welche die Voraussetzung schafft für jenen Kompetenztransfer, der erforderlich ist, um den Klienten zu befähigen, seriöse Entscheidungen zu treffen, für die er auch bewusst die Verantwortung übernimmt.

Der Arbeitgeber hat Herrn Koller ein bEM-Verfahren nach § 84 Abs. 2 SGB IX angeboten. Koller steht, wie Sie an seiner Reaktion erkannt haben, noch ganz am Anfang eines Lernprozesses und möglicherweise vor einer Reihe von Entscheidungen, die er für sich treffen muss. Die erste Übung hat er schon absolviert. Ihre Frage, ob er sich mit Ihnen ausführlicher darüber unterhalten wolle, entschied er mit Ja. Für die zweite Frage, nach dem Wann, brauchte er etwas Zeit zu überlegen und machte dann einen Terminvorschlag für Mitte nächster Woche. Da Ihnen der Termin passt, nehmen Sie ihn an. Sie haben nun Zeit genug, sich auf das Gespräch einzustellen. Für den ersten Termin nehmen Sie sich nicht mehr vor, als gut und empathisch zuzuhören, was auch immer Herrn Koller umtreibt.

 

Sie rufen Herrn Koller zurück

Drehen wir unsere bEM-Episode um Ihren Kollegen Koller ein Stückchen zurück. Sie als Betriebsratsmitglied hatten gestern den Anruf von Herrn Koller aufgrund Ihres Zeitdrucks abgebrochen und einen Rückruf für heute angekündigt. Sie greifen nun zum Hörer. Ihr Ziel: ihn für ein erstes bEM-Ge­spräch zu gewinnen. Diesmal sind Sie ohne Termindruck. Sie starten entspannt ins Gespräch.

Wie beginne ich das Telefonat?

Den Hörer schon in der Hand, halten Sie inne: Wie beginne ich das Gespräch? Ach ja, ganz einfach: Ich erwähne den gestrigen, etwas brüsk abgewürgten Anruf und frage ihn, wie’s ihm geht. Nun wählen Sie Kollers Dienstnummer. Koller meldet sich.

„… Sie hatten mich gestern angerufen und ich spürte, Sie waren sehr beunruhigt wegen des bEM-Schreibens. Ich stand unter extremem Termindruck und konnte leider gar nicht näher darauf eingehen. Das hatten Sie sich sicher anders vorgestellt. Wie ging’s Ihnen denn danach?“

Koller geht nur indirekt auf Ihre Frage ein: „Ich hätte schon gern gewusst, was mich da erwartet und überhaupt was das Ganze soll. Alle wissen doch, dass ich im Oktober 3 Wochen im Krankenhaus war. Jetzt haben wir Mai und man schickt mir so einen bescheuerten Brief. Was wollen die von mir?“

Nicht mehr Information als im Moment nötig

Sie haben in der bEM-Schulung gelernt, dass der Klient zuerst gut informiert werden müsse, damit er in der Lage ist, eine rationale Entscheidung für oder gegen das bEM zu treffen.
„Das kann ich gut verstehen, dass Sie das misstrauisch macht. Das bEM ist bei uns noch ziemlich neu und erst wenigen wirklich bekannt. Mit einer besseren Vorinformation wäre das vermieden worden. So müssen wir das jetzt nachholen. Erste Grundinformation: Ob das bEM stattfindet oder nicht, entscheidet niemand anders als Sie. Doch bevor Sie sich für oder gegen was entscheiden, sollten Sie wissen, worauf Sie sich einlassen, was es Ihnen bringt oder ob es da Risiken gibt. Also, noch geht’s gar nicht um Ja oder Nein, sondern nur um Infos zu Fragen wie: Was ist das bEM? Von wem kommt’s? Was will man damit erreichen? Wie läuft das ab? Was passiert, wenn man’s ablehnt?“

Koller: „Dem Brief von der Personalabteilung lag so ein Infoblatt bei, da steht einiges darüber drin, aber ich bin nicht schlau draus geworden. Und schon gar nicht, was das mich angehen soll. Jetzt weiß ich nur, dass ich denen zu oft krank war.“

Sie greifen seinen Ball auf: „Sie haben recht, da ist vieles unverständlich und muss dringend geklärt werden. Zum Beispiel, dass Sie nicht zu oft krank waren, sondern dass Sie eine bestimmte vom Gesetzgeber festgelegte Anzahl an Fehlzeiten aufweisen, die Sie berechtigt, das Angebot des bEM in Anspruch zu nehmen. Aber das ist nur ein Punkt. Sie sollen auf alle Ihre Fragen zum bEM eine Antwort bekommen. Erst dann können Sie eine freie Entscheidung für oder gegen das bEM treffen. Und wenn Sie das Gefühl haben, das bEM könnte für Ihre Gesundheit gut sein, dann suchen wir gemeinsam, was sich dafür an Ihrem Arbeitsplatz verbessern lässt. Und wenn Sie zu der Überzeugung kommen, dass das bEM Ihnen nichts bringt, können Sie es jederzeit abbrechen. Und Sie können das, ohne dass der Arbeitgeber Ihnen einen Strick daraus drehen kann.“

Koller: „Na ja, wer’s glaubt …“

Widerstände wahrnehmen, „spiegeln“, akzeptieren, bearbeiten

Koller bleibt misstrauisch. Das Infoblatt hat er nur flüchtig gelesen und auch Ihre ersten Informationen passen so gar nicht zu seinen langjährigen betrieblichen Erfahrungen. Sie spüren seine Skepsis. Jetzt nur keinen Druck machen! Sie greifen sein Zögern auf:
„Ihnen kommt das alles ziemlich spanisch vor. Versteh’ ich gut. So was ist ja auch nicht so ganz üblich bei uns. Aber wir als Betriebsrat sind im bEM-Team und sorgen schon dafür, dass für die Kollegen und Kolleginnen im bEM alles optimal läuft. Und da gibt’s ja auch noch den Betriebsarzt und, wie in Ihrem Fall, das Integrationsamt. Bei Bedarf werden die mit einbezogen werden. Der Arbeitgeber entscheidet im bEM nicht allein.“

Koller: „Hm.“

Im Gespräch nicht nur reagieren, auch führen

Sie haben das Gefühl, dass es langsam Zeit wird, einen Schritt nach vorn zu tun: 
„Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?“

Koller bejaht („Ja, was?“), froh, dass das Hin und Her ein Ende nimmt. Sie schlagen ihm vor, zunächst einmal einen Termin für ein Informationsgespräch zu machen, und nennen ihm außer Ihrer eigenen Person auch noch zur Auswahl die anderen Mitglieder des bEM-Teams, die als Berater in Frage kommen. Er entscheidet sich – nicht ganz überraschend – für Sie.
„Und wann passt es Ihnen?“

Koller schaut nach: „Nächsten Mittwoch, Nachmittag.“ – Während Sie schon Ihren Kalender checken, schiebt er die Frage nach: „Wie lange dauert das?“

Sie stellen fest, dass der Mittwochnachmittag schon voll verplant ist. „Oh, gerade dieser Nachmittaggeht bei mir leider gar nicht. Ich sage Ihnen mal, wann ich frei bin: …“

Koller wählt einen Termin aus und fragt noch einmal, wie lange dieses Gespräch dauern werde. Ihre Empfehlung: „Planen Sie mal eine gute Stunde dafür ein, das reicht erfahrungsgemäß und wir kommen nicht, wie ich gestern, unter Druck.“

Ratschläge geben, ohne die Entscheidung abzunehmen

„Und was sag’ ich meinem Chef?“, will Koller noch wissen.

„Sie haben jederzeit das Recht“, erfährt er von Ihnen, „sich von Ihrem Betriebsrat beraten zu lassen, worüber, geht ihn nichts an. Ebenso berechtigt Sie jedes bEM-Gespräch, sich vom Arbeitsplatz abzumelden. Selbstverständlich zählt auch schon das Informationsgespräch dazu.“

„Und welche Begründung ist die bessere?“, will Koller wissen.

„Diejenige, die Sie für die bessere halten. Diese Wahl liegt ganz bei Ihnen.“ Wie bei der Terminwahl vermeiden Sie, Herrn Koller Entscheidungen abzunehmen, die er selber treffen kann. Sie handeln nach dem Prinzip: Ich informiere, der Klient entscheidet. Die Information soll ihn entscheidungsfähig machen. Die Entscheidung nehmen Sie ihm nicht ab, um seine Selbstverantwortung zu stärken.

Haben Sie für den Moment noch Fragen, die noch zu klären sind?“

Koller verneint.

Gespräch auf der Person- oder der Beziehungsebene abschließen

Sie beenden das Gespräch mit der Frage: „Wie geht’s Ihnen jetzt nach diesem Gespräch?“
Oder mittels der „Spiegeltechnik“: „Ich habe den Eindruck, dass es Ihnen jetzt etwas besser geht als gestern und auch besser als zu Beginn unseres heutigen Gesprächs. Der Nebel um das bEM hat sich doch schon ein wenig gelichtet, oder nicht?“ …

Koller zögert etwas, bevor er das Gespräch auch seinerseits beschließt: „Ja, ein bisschen. Aber ich habe noch nicht Ja gesagt! Ich traue der Sache immer noch nicht! …

Kollers Zweifel sind ein gutes Zeichen!

Es ging Ihnen in diesem Telefonat bekanntlich nur darum, den Klienten für das bEM-Informations­gespräch zu öffnen. Das Ziel war nicht, Zweifel am bEM zu beseitigen. Im Gegenteil: Die Offenheit, mit der der Klient seine Skepsis äußerte, verspricht nicht nur, dass das terminierte Informationsgespräch anregend und produktiv sein wird, sondern auch, dass er sich nicht vor den Entscheidungen, die auf ihn zukommen, drücken und versuchen wird, diese an Sie oder andere bEM-Akteure zu „delegieren“.

Die Regel zur Rollenverteilung, wer berät und wer entscheidet, von Anfang an einüben

Ihre Gesprächsführung hat von Anfang an gerade so viel an Information geliefert, dass der Klient die anstehenden Mini-Entscheidungen treffen konnte, die für Ihr heutiges Gesprächsziel nötig waren. Auf der Sachebene stehen die Chancen für ein Ja zum bEM gut, seine Offenheit spricht für eine tragfähige, ehrliche Beziehung zu Ihnen als bEM-Berater, und auf der Persönlichkeitsebene ist zu erkennen, dass er sich auf Ihre (unausgesprochene) Regel:

„Ich gebe Ihnen Hilfestellung, entscheiden müssen Sie selbst.“

angenommen und bereits die ersten Übungen beim Betreten des ungewohnten Aktionsfeldes bEM absolviert hat. Im weiteren bEM-Prozess wird diese Regel dann erweitert werden auf:

„Wir, die bEM-Akteure, stellen unsere Sachkompetenz in den Dienst Ihrer gesundheitlichen Rehabilitation. Sie beteiligen sich aktiv und mitverantwortlich an der gemeinsamen Suche und Entwicklung von Maßnahmen, die optimal auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.“

Der Erfolg (nicht nur) des bEM gründet im Vertrauen zwischen Klient und Berater

Unsere Geschichte des Herrn Koller zeigt uns einen Menschen, der vorsichtig ist, misstrauisch, auch etwas ängstlich. Andererseits traut er sich, diesen inneren Widerstand zu zeigen, zumindest Ihnen gegenüber. Sie haben seine Distanziertheit akzeptiert und ihn da „abgeholt“, wo und wie Sie ihn angetroffen haben. Ihr Verständnis und Ihre Geduld sind für ihn Beweis, dass er von Ihnen so akzeptiert wird, wie er ist. Zwischen den beiden Personen entsteht ein Band des Vertrauens.

Menschen reagieren auf Zumutungen sehr verschieden

Das bEM wird so lange als eine Zumutung empfunden werden, bis es in der Belegschaft allgemein bekannt und akzeptiert ist. Herr Koller reagiert auf Ungewohntes, dessen Auswirkungen er nicht gut einschätzen kann, mit Skepsis, Misstrauen, Kritik bis hin zu Ablehnung. Diese Haltung äußert sich hauptsächlich auf der Sachebene. Gefühle und die eigene Person thematisiert er nicht explizit.

Anders ist das bei Herrn Schwenker, bei dem das ungewohnte bEM sofort ein vehementes Bedürfnis auslöst, die eigene Krankheitsgeschichte bis in die Details zu erzählen – vielleicht auch, um sich auf diese Weise gegen etwaige Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Fehlzeiten vorbeugend zur Wehr zu setzen.

 

Skeptische und zögerliche Kollegen zum Ziel führen – ohne Druck!

Nehmen wir an: Ihr erster bEM-Fall, der des Kollegen Koller, befindet sich inzwischen in der Phase der Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen. Als sein persönlicher bEM-Berater haben Sie Herrn Koller durch das Verfahren begleitet. Mit Erfolg sorgten Sie dafür, dass im Verfahren nie Druck aufkam, sich vorschnell in dieser oder jener Richtung zu entscheiden, auch wenn, ihm – außer dem Abbruch des bEM – keine andere Wahl blieb, als die vom Arbeitgeber angebotene und vom Betriebsarzt unterstützte Maßnahme anzunehmen.

Ihnen ging es vor allem darum, dass er voll und ganz hinter seiner Entscheidung (sei’s ein Ja oder ein Nein) stehen konnte. Glücklicherweise entschied er sich für die Maßnahme. Trotz der dicken Kröte, die er schlucken musste: eine Fortbildung. Die drohende Verdienstminderung, so das Angebot des Arbeitgebers, lasse sich nur vermeiden, wenn er den krankheitsbedingten Verlust eines Teils seiner arbeitsvertraglich ausgeübten Funktionen im Service durch neue in der Verwaltung kompensieren könne. Dazu müsse er aber bereit sein, sich einer längeren SAP-Schulung zu unterziehen.

Sich auf diese Bedingung einzulassen, fiel ihm angesichts seines fortgeschrittenen Alters nicht leicht.

Vertrauen statt Manipulation

Sie als sein bEM-Begleiter haben der Versuchung widerstanden, ihn mit aufmunternden Worten („Das packen Sie schon noch!“) dazu zu überreden. Stattdessen haben Sie – mit seinem ausdrücklichen Einverständnis – den telefonischen Kontakt mit dem SAP-Schulungsleiter hergestellt. So konnte Herr Koller sich selber aus erster Hand ein Bild davon machen, was ihn in der Schulung erwartet, und über seine Selbstzweifel sprechen. Nachdem ihm zugesichert wurde, dass er sich nach der Schulung bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz jederzeit auf der SAP-Schulungshotline Hilfe holen könne, wagte er den Schritt und entschied sich dafür.

Für Sie war es nicht leicht, die Ungewissheit, wie sich der Skeptiker wohl entscheiden werde, auszuhalten.

Solcher Ungewissheit und solchen Risiken werden Sie in der Beratung immer wieder begegnen – nicht nur bei Skeptikern.  Damit ist zu rechnen, wenn Sie Ihren Klienten wirklich zugestehen, ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen.

Nähe und Distanz – zwei Seiten einer Medaille

Wichtig ist die Fähigkeit, Nähe und Distanz nicht als alternative, ja, gegensätzliche Einstellungen zu begreifen, sondern als zwei Seiten einer Medaille. Distanz ist sicher zum einen ein psychohygienischer Schutz vor den emotionalen Belastungen, die die Nähe-Erfahrung mit sich bringt. Sie ist aber ebenso, wenn nicht gar vorrangig, eine Grundbedingung der Entscheidungsfreiheit des Klienten und seiner Selbstverantwortung. In vielen Fällen fördert die Distanz, also der bewusste Verzicht auf Druck und Manipulation, überhaupt erst die Fähigkeit, zu einer selbstbestimmten Entscheidung zu finden. Unter den Bedingungen autoritärer Strukturen vielerorts in unserer Arbeitswelt keine leichte Aufgabe.

Mit diesen Erfahrungen und Erkenntnissen aus dem Fall Koller nehmen Sie sich Ihres zweiten bEM-Falles an.

Der Fall des Kollegen Schwenker

Herr Schwenker, ca. 40, Krebspatient, seitdem schwerbehindert, vor 3 Jahren fast ein Jahr lang krankheitsbedingter Ausfall. Seit gut einem Jahr Zunahme der Fehlzeiten bis zur bEM-Berechtigung (nach der Primärerkrankung vor 3 Jahren gab es im Betrieb noch kein bEM). Sie kennen Herrn Schwenker persönlich im Rahmen Ihrer Betriebsratstätigkeit. Er hat zu Ihnen ein gutes Vertrauensverhältnis. Vom gesetzlich vorgeschriebenen bEM hatte er bereits in der Reha gehört.

Im ersten Gespräch mit ihm erfahren Sie, dass er vom Arbeitgeber das bEM-Angebot bekommen habe und er es „selbstverständlich in Anspruch nehme“. Er wundere sich, dass er das nicht schon vor 3 Jahren bekommen habe, wo er „es dringend gebraucht hätte“. Sie pflichten ihm bei: „Ja, du hast völlig recht! Das hätte dir natürlich zugestanden, leider gab’s das damals bei uns noch nicht.“

In Ihrem Betrieb ist das bEM noch neu und Schwenker ist ja auch erst Ihr zweiter Fall. Ihnen scheint, dass er sich auf das bEM einlassen will, ja, dass er es geradezu erwartet. Um sicher zu gehen, fragen Sie ihn: „Ich habe den Eindruck, dass du dieses Angebot annehmen möchtest. Sehe ich das richtig?“ Er bejaht und geht nahtlos über zur detailreichen Schilderung seiner gesundheitlichen Situation. Eigentlich kommt Ihnen das zu früh und auch das bEM-Verfahren verlangt einige Schritte samt Unterschriften davor. Dennoch wagen Sie es nicht, diesen drängenden Strom an Erfahrungen, Informationen, Meinungen, Ängsten und Hoffnungen abzublocken …

Richtig? Oder falsch?
Es kommt, wie so oft im Leben, auf das Wie an.

Typ A: Sie lieben es, in der Spur zu bleiben

Stellen wir uns zunächst vor, Sie seien der Typ, der es liebt, strukturiert vorzugehen. Das bEM-Ver­fahren, wie im Anhang zu Ihrer Betriebsvereinbarung bEM genau beschrieben, gibt die logische Schrittfolge vor und Sie halten viel davon, unnütze und zeitaufwendige Doppelungen zu vermeiden.

Was Sie allerdings nicht tun: Sie schauen weder demonstrativ auf Ihre Armbanduhr, noch sagen Sie: „Jetzt mal Stopp! Zu deiner Krankheit kommen wir später. Zuerst müssen wir einige Formalitäten klären und ich möchte auch sicher sein, dass du genau Bescheid weißt über das Was und Wie des bEM, bevor wir zur eigentlichen Sache kommen.“ Stattdessen hört der Klient: „Entschuldige, dass ich dich unterbreche. Ich merke, wie sehr deine gesundheitliche Situation dich belastet und genau darum soll es ja auch gehen. Doch bevor wir uns eingehend damit befassen, muss ich mit dir noch einige Formalitäten, die das bEM vorschreibt, durchgehen. Und vielleicht hast du auch noch Fragen zum bEM in unserem Betrieb. Dann klären wie die, und dann bin ich ganz bei dir und wie’s dir geht. Ist das für dich o. k. so?“

Typ B: Sie nehmen’s gern so, wie’s kommt

Stellen wir uns alternativ vor, Sie seien ein Typ, der weniger strukturorientiert ist und sich leicht auf unterschiedliche Gesprächsverläufe einstellt. Die Ausgangslage ist dieselbe: Der Klient bejaht die Frage nach der Bereitschaft zum bEM und versteht diese Situation als Startsignal, seine Leidensgeschichte zu erzählen. Sie spüren seine Betroffenheit, hören zu und scheuen sich, den Redefluss zu stoppen, nur um die leidigen Formalitäten unter Dach und Fach zu bringen. Sie hören ganz empathisch zu. Unversehens wird aus dem Bericht bereits eine Bearbeitung. Erste Ideen zur Problemlösung kommen ins Spiel und es wird immer schwieriger, dem Problemlösungsprozess eine Struktur zu geben.

Wie können Sie, Vertreter des Typs B, dieser Gefahr entgehen? Methodisch durch eines der Basisinstrumente der non-direktiven Gesprächsführung: das Passive Zuhören.

Passives Zuhören – Aufmerksamkeit ohne Worte

Passives (im Gegensatz zum Aktiven) Zuhören begnügt sich mit einfachen nonverbalen und paraverbalen Reaktionen aufmerksamen Zuhörens. Nonverbal: Blickkontakt, verstehendes Nicken, Körperhaltung, Mimik und Gestik der Zugewandtheit und des Interesses. Paraverbal: oh, aha, hm, mhm … Keine Fragen, weder Nachfragen noch Weiterfragen! Keine Bemerkungen, Wertungen, Erweiterungen durch eigene Erfahrungen und Ähnliches! Auch keine Notizen! Nur aufmerksames Zuhören.

Abschlusskommentar und Weichenstellung

Ist die Schilderung an ihr (vorläufiges) Ende gekommen, gehen Sie nicht auf Einzelheiten ein. Sie schließen seine Rede nur mit einem allgemeinen Kommentar ab, etwa derart: „Da hast du viel durchgemacht“; „Ich kann mir gut vorstellen, dass dich dies sehr belastet“; „… dass du Angst hast, wenn du an die Zukunft denkst“. Oder auch, etwas persönlicher: „Ich bewundere dich, wie du dich trotz allem nie aufgegeben hast“.

Und Sie stellen jetzt die Weiche in Richtung Verfahrensstruktur: „Wir werden uns nach diesem ersten Eindruck mit einzelnen Punkten später eingehend befassen. Da gibt es noch viele Fragen, auf die wir eine Antwort finden müssen. Aber zuerst möchte ich noch einen Schritt zurückgehen und mit dir zusammen einige Formalitäten erledigen, damit wir das bEM ordnungsgemäß starten können. Wenn du willst, können wir das gleich jetzt machen – oder lieber in einem neuen Termin?“

Nachdem die Vorarbeit zum ordnungsgemäßen Start des bEM nachgeholt ist, ist auch der Typ B wieder in die bEM-Spur eingebogen. Sie können nun den Übergang zur Problemerfassung und -bear­beitung gestalten, indem Sie einen Punkt aus der Schilderung, der Ihnen besonders wichtig erscheint, herausgreifen und mit einer Frage („Impulsfrage“) zu weiteren Informationen zu diesem Punkt oder über diesen hinaus anregen. Findet das Gespräch zu einem neuen Termin statt, versuchen Sie, mit einer Zusammenfassung der Schilderung in der letzten Sitzung die Problemanalyse zu eröffnen. Diese Zusammenfassung muss weder korrekt noch vollständig sein. Im Gegenteil: Gerade Mängel, Ungenauigkeiten, Verzerrungen, Vergessenes … bringen auf lockere Weise das Gespräch in Gang.

BEM-Beratung braucht beides: Verfahrensstruktur und Ihre Individualität

Wir sehen, beide Varianten, die strukturbetonte wie die der freien Gesprächsführung, sind denkbar und lassen sich mit der Rahmenstruktur des bEM-Verfahrens vereinbaren. Beide Varianten können also gelingen, beide auch misslingen.

Sind Sie eher Typ A oder eher Typ B oder ganz anders? Sie können der Struktur des bEM-Verfahrens in Ihrer Beratung gerecht werden, ohne Ihre Eigenart verleugnen zu müssen. Mit dem Versuch, Ihre Person und die Struktur in Einklang zu bringen, nützen Sie letztlich beiden.

Das bEM braucht Struktur. Struktur ist ein Element der Distanz. Je stärker der bEM-Begleiter die Strukturlogik des bEM verinnerlicht, desto freier kann er in der Beratung Nähe zulassen, ohne ins Gefühls- oder Verfahrenschaos abzurutschen. Und der Klient ist ihm dankbar für beides: für menschliche Nähe in einer ungewohnten Situation sowie für die Distanz im Sinne von sicherer Führung und Zielorientierung

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