Neurodivergenz am Arbeitsplatz: Vielfalt verstehen, Potenziale fördern

Als Interessenvertretung stehen Sie vor der wichtigen Aufgabe, für gerechte, inklusive und gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen einzutreten. Ein Aspekt von Diversität, der dabei zunehmend in den Fokus rückt, ist Neurodivergenz – eine oft unsichtbare, aber weit verbreitete Form menschlicher Vielfalt. Menschen, die neurodivergent sind, denken, lernen und kommunizieren anders als es in unserer Arbeitswelt oft als „normal“ gilt. Diese Unterschiede sind keine Schwäche – im Gegenteil: Sie können wertvolle Stärken mit sich bringen, wenn man ihnen mit Offenheit und Verständnis begegnet.

Was bedeutet Neurodivergenz?

Der Begriff „Neurodivergenz“ wurde ursprünglich aus der Autismus-Community heraus geprägt und meint Abweichungen von der neurologischen Norm. Gemeint sind damit Unterschiede in der Art, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, Reize wahrnimmt, mit Stress umgeht oder soziale Situationen interpretiert.

Zu neurodivergenten Bedingungen zählen unter anderem:

  • Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) – Menschen im Autismus-Spektrum haben häufig ein hohes Maß an Detailorientierung, analytischem Denken oder Mustererkennung. Gleichzeitig können sie Schwierigkeiten mit unklarer Kommunikation oder sozialen Erwartungen im Team haben.
  • AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) – Menschen mit ADHS sind oft kreativ, lösungsorientiert und besonders leistungsfähig unter Zeitdruck. Gleichzeitig kann es ihnen schwerfallen, sich über längere Zeit zu konzentrieren oder bei Routinetätigkeiten motiviert zu bleiben.
  • Legasthenie und Dyskalkulie – Diese Unterschiede in der Informationsverarbeitung betreffen Lesen, Schreiben oder Rechnen. Betroffene sind nicht weniger intelligent – sie brauchen lediglich andere Zugänge zu Informationen oder mehr Zeit bei bestimmten Aufgaben.
  • Hochsensibilität – Hochsensible Menschen reagieren besonders stark auf Sinneseindrücke, zwischenmenschliche Spannungen oder Reizüberflutung. In einem passenden Umfeld können sie über eine ausgeprägte Intuition, Empathie und Beobachtungsgabe verfügen.
  • Tourette-Syndrom – Tics oder spontane Bewegungen und Lautäußerungen sind oft unkontrollierbar, sagen aber nichts über die fachliche Kompetenz oder Zuverlässigkeit einer Person aus.

Viele neurodivergente Menschen haben keine offizielle Diagnose – oder sie möchten diese nicht offenlegen. Umso wichtiger ist eine grundsätzlich wertschätzende, flexible und individuelle Arbeitsumgebung, die Vielfalt ermöglicht, ohne Stigmatisierung.

Warum ist das Thema für Betriebsräte und Personalräte relevant?

Neurodivergente Beschäftigte stehen im Arbeitsalltag häufig vor Herausforderungen: laute Großraumbüros, unstrukturierte Meetings, wechselnde Anforderungen oder soziale Überforderung. Solche Belastungen können zu Stress, Erschöpfung und sogar zum Rückzug aus dem Berufsleben führen – oft, ohne dass die Ursachen erkannt oder angesprochen werden.

Als betriebliche Interessenvertretung können Sie gezielt dazu beitragen, Barrieren abzubauen und Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass alle ihre Stärken einbringen können.

Was können Sie konkret tun?

1. Aufklärung fördern:

Durch Workshops, interne Infomaterialien oder Fortbildungen für Führungskräfte und Kolleg*innen kann ein besseres Verständnis für neurodiverse Bedürfnisse geschaffen werden.

2. Individuelle Anpassungen ermöglichen:

Flexible Arbeitszeiten, geregelte Kommunikation (z. B. schriftlich statt mündlich), klare Strukturen, Rückzugsräume oder Lärmschutzmaßnahmen können einen großen Unterschied machen – oft mit wenig Aufwand.

3. Mitgestalten in der Regelsetzung:

In Betriebsvereinbarungen können Sie Rahmenbedingungen schaffen, die inklusives Arbeiten fördern. Etwa durch transparente Bewerbungsverfahren, alternative Leistungsbeurteilungen oder verbindliche Standards für Barrierefreiheit.

4. Schutzrechte stärken:

Wenn eine anerkannte Behinderung vorliegt, gelten besondere Schutzrechte nach dem SGB IX oder dem AGG. Hier sollten Sie eng mit der Schwerbehindertenvertretung zusammenarbeiten – auch, wenn keine formale Gleichstellung beantragt wurde.

Machen Sie Neurodivergenz zum Thema in Ihrem Betrieb – nicht nur aus Fürsorge, sondern auch, weil darin oft ungenutztes Potenzial steckt.