Die Abfindung schwerbehinderter Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wirft häufig arbeitsrechtliche Fragen auf. Zwar genießen schwerbehinderte Beschäftigte besonderen Schutz, doch bei der Abfindung im Rahmen eines Sozialplans stellt sich oft die Frage: Darf Schwerbehinderung ein Kriterium sein, um die Abfindung zu kürzen – etwa weil eine frühere Rente möglich ist? Besonders relevant wird dies, wenn schwerbehinderte Arbeitnehmende gegenüber nicht behinderten Kolleg*innen finanziell benachteiligt werden. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahr 2015 bringt hierzu mehr Klarheit.
Das Poko-Institut unterstützt Betriebsräte, Schwerbehindertenvertretungen und Arbeitnehmervertretungen mit praxisnahen Betriebsrat-Seminaren und SBV-Seminaren rund um Arbeitsrecht, Sozialplanverhandlungen und Inklusion im Betrieb. Dabei bietet Poko auch Inhouse-Schulungen bei Ihnen vor Ort an, die individuell auf Ihre betriebliche Situation und die besonderen Herausforderungen zugeschnitten sind.
Seminar: Sozialplan und Interessenausgleich bei BetriebsänderungenSozialpläne dienen dazu, wirtschaftliche Nachteile von Arbeitnehmenden bei Kündigung oder Stellenabbau abzumildern. Die Abfindung – also die finanzielle Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes – wird darin oft durch Formeln festgelegt. Häufig berücksichtigen solche Formeln Faktoren wie Betriebszugehörigkeit, monatliches Gehalt oder Alter.
In vielen Unternehmen gibt es dabei Sonderregelungen für ältere, rentennahe Jahrgänge. Das heißt, dass im Sozialplan die Abfindung rentennaher Jahrgänge oft begrenzt oder reduziert wird. Der Gedanke dahinter: Wer kurz vor der Rente steht, hat durch die Arbeitslosigkeit geringere finanzielle Nachteile, da er bald eine Altersrente beziehen kann. Solche Differenzierungen nach Alter wurden von der Rechtsprechung grundsätzlich als zulässig anerkannt, sofern sie sachlich gerechtfertigt sind (z.B. um soziale Härten für Jüngere stärker abzufedern).
Im zugrundeliegenden Fall (BAG, Urteil vom 17.11.2015, Az. 1 AZR 938/13) gab es im Sozialplan neben der Regelung für rentennahe Jahrgänge auch eine besondere Klausel für schwerbehinderte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen:
Zum Vergleich: Andere ältere Arbeitnehmer*innen (ohne Schwerbehinderung), die vor dem 1. Januar 1952 geboren waren und nach maximal zwölf Monaten Arbeitslosigkeit in Altersrente wegen Arbeitslosigkeit gehen konnten, erhielten zwar auch nicht die volle Formel-Abfindung, aber bis zu 40.000 € (diese Summe war als Höchstgrenze für rentennahe Jahrgänge festgelegt). Jüngere Mitarbeiter*innen oder solche, die nicht kurz vor der Rente standen, bekamen ihre Abfindung nach der üblichen Formel ohne diese speziellen Kappungsgrenzen.
In dem entschiedenen Fall betraf die Sozialplanregelung einen 1950 geborenen, schwerbehinderten Mitarbeiter. Nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit verlor er zum 31. März 2012 seinen Arbeitsplatz aufgrund einer Betriebsänderung. Laut der allgemeinen Abfindungsformel hätte ihm – basierend auf Gehalt und Betriebszugehörigkeit – eine Abfindung von rund 64.500 € zugestanden. Da er jedoch schwerbehindert war und zum Kündigungszeitpunkt aufgrund seines Grades der Behinderung sofort eine ungekürzte Rente beziehen konnte, griff die Sonderklausel: Er erhielt nur 10.000 € (plus den 1.000 €-Zusatzbetrag) als Abfindung. Sein nicht behinderter Kollege gleichen Jahrgangs hätte dagegen aufgrund der Kappungsgrenze für rentennahe Jahrgänge zumindest 40.000 € Abfindung bekommen können.
Der schwerbehinderte Arbeitnehmer fühlte sich durch diese Regelung offensichtlich benachteiligt – zu Recht, wie sich herausstellte. Er klagte auf Zahlung der Differenz und verlangte zusätzlich rund 30.000 € mehr Abfindung (um zumindest auf das Niveau der 40.000 €-Grenze für vergleichbare ältere Mitarbeiter*innen zu kommen). Alle Instanzen der Arbeitsgerichte gaben seiner Klage schließlich statt.
Das Bundesarbeitsgericht bestätigte im November 2015, dass die Sozialplan-Klausel unwirksam war, soweit sie schwerbehinderte Mitarbeitende schlechter stellte. Eine Abfindungsregelung, die unmittelbar an das Merkmal Schwerbehinderung anknüpfe, verstoße gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), sofern dadurch Betroffene geringer gestellt würden. Im konkreten Sozialplan führte die Pauschale von 10.000 € nämlich dazu, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen deutlich weniger Abfindung erhielten als nicht behinderte Kolleg*innen in vergleichbarer Lage.
Das Gericht wertete dies als unzulässige Diskriminierung wegen Behinderung und stellte klar: Wenn ein Sozialplan zwischen verschiedenen Arbeitnehmergruppen unterscheide, müssten dabei die Diskriminierungsverbote beachtet werden. Hier lag eine Ungleichbehandlung wegen der Behinderung vor – schwerbehinderte Beschäftigte, die nach der normalen Formel einen höheren Betrag bekommen hätten, wurden allein aufgrund ihrer Rentenberechtigung wegen Behinderung auf eine geringere Pauschale gesetzt. Das BAG erklärte, eine solche Klausel dürfe gemäß § 7 Abs. 2 AGG nicht angewendet werden. Schwerbehinderte hätten Anspruch auf die gleiche Berechnung ihrer Abfindung wie vergleichbare nicht behinderte Arbeitnehmende.
Interessant ist, dass das BAG mit diesem Urteil seine vorherige Rechtsprechung änderte. Zuvor war man in älteren Urteilen davon ausgegangen, dass solche Kürzungen zulässig sein könnten. Ausschlaggebend für den Wandel war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2012 (Rechtssache C-152/11 "Odar“), das genau diese Thematik betraf. Der EuGH stellte klar, dass eine Abfindungsregelung, die an eine Rentenberechtigung wegen Behinderung anknüpfe, gegen das europäische Diskriminierungsverbot verstoße. Das BAG hat darauf reagiert und die nationale Rechtsprechung angepasst: Schwerbehinderung dürfe nicht als Grund für eine geringere Abfindung dienen.
Für Betriebsräte und Arbeitgeber bedeutet dieses Urteil: Sozialplan-Regelungen müssen sorgfältig geprüft werden. Insbesondere Unterschiede bei Abfindungen sollten sachlich gerechtfertigt und nicht diskriminierend sein.
Einige praktische Leitlinien:
Schwerbehinderte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen dürfen bei den Abfindungen im Sozialplan nicht schlechter gestellt werden. Das BAG-Urteil unterstreicht die Bedeutung der Gleichbehandlung: Eine Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmender führt zwar nicht automatisch zu einer höheren Abfindung, aber sie darf auch nicht zu einer geringeren Abfindung führen als bei vergleichbaren nicht behinderten Kolleg*innen. Betriebsräte sollten dies bei künftigen Sozialplan-Verhandlungen unbedingt berücksichtigen.
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