Der geänderte Behindertenbegriff und dessen Bedeutung

 

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Am 1. Januar 2018 traten mit der Neufassung des SGB IX durch Artikel 1 des Bundesteilhabegesetzes im neuen, dreiteiligen SGB IX einige inhaltliche Änderungen in Kraft. Hierzu gehört insbesondere der in § 2 Absatz 1 SGB IX geänderte Behinderungsbegriff.

Der alte Begriff

Der 2001 in das BTHG eingeführte Begriff der Behinderung, der bis zum 31.12.2017 galt, knüpfte an die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an. Danach gilt das Ziel der der gesellschaftlichen Teilhabe (Partizipation). Entsprechend diesem Leitbild gelten Menschen als behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensjahr typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Die Vorgabe der UN-BRK

Nach dem die Bundesrepublik das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ratifiziert hatte (1), war sie verpflichtet, den deutschen Begriff der Behinderung an Begrifflichkeit der Konvention anzupassen (2). Der Anpassungsbedarf bestand, weil die UN-BRK weitergeht.

Artikel 1 UN-Behindertenrechtskonvention

Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

Die Auslegungskompetenz des EuGH

Da auch die Europäische Union die UN-BRK ratifiziert hatte (3), war letztendlich der EuGH für die Auslegung dieses Begriffes zuständig. In einer Entscheidung über eine geltend gemachte Benachteiligung wegen einer Behinderung (4) hatte er eine erläuternde Definition aufgestellt. Danach ist eine Einschränkung als Behinderung anzusehen, wenn sie auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist und in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben hindert, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, am Arbeitsleben teilnehmen zu können (5). Der Gerichtshof hatte in diesem Fall erkannt, dass die beim Kläger vorliegende Adipositas als solche zwar noch keine "Behinderung“ sei, da sie nicht zwangsläufig mit Einschränkungen verbunden sei, jedoch in Wechselwirkung mit Barrieren an der Arbeitsstätte ihn an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben hindern könne. Wenn diese Einschränkung von langer Dauer sei, könne Adipositas unter den Begriff "Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 fallen (6).  

Die UN-BRK hat seit 2009 den Rang eines Bundesgesetzes und ist deshalb wie anderes Gesetzesrecht des Bundes zu beachten und anzuwenden. Die Rechtsprechung musste deshalb schon seit 2009 den Vorgaben der UN-BRK Rechnung tragen (7). Das BAG hatte auch folgerichtig die Bestimmungen der UN-BRK als Bestandteil der Unionsrechtsordnung und zugleich als Bestandteil des unionsrechtskonform auszulegenden deutschen Rechts angesehen (8).

Die gesetzliche Klarstellung

Die am 01.01.2018 in Kraft getretene gesetzliche Neuregelung hat keine neue Rechtslage geschaffen, sondern nur begriffliche Klarheit. Die Neufassung des § 2 SGB IX Abs. 1 hat folgenden Wortlaut:

(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.

Die Auswirkungen des Einbeziehens einstellungs- und umweltbedingter Barrieren

Die Neufassung hat vor allem in vier Hinsichten für die Praxis Bedeutung:

  1. Für das Antragsverfahren zur Feststellung der Behinderung und des Grades der Behinderung (§ 152 Abs. 1 SGB IX): Hier sind auch die Teilhabeeinschränkungen zu berücksichtigen, die auf die Wechselwirkung mit Barrieren beruhen, die von der Mitwelt oder der Umwelt ausgehen. Beispiel: Führt eine körperliche Beeinträchtigung in Form einer dauerhaften tuberkulösen Erkrankung zu einer zusätzlichen psychischen Belastung, weil die Mitwelt dem behinderten Menschen wegen der Ansteckungsgefahr ablehnend gegenübersteht.
     
  2. Für die Frage, ob der Arbeitgeber angemessene Vorkehrungen zu ergreifen hat: Eine körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung kann den Arbeitgeber nach Art 5 EGRL 78/2000 bzw. aus § 241 BGB zu angemessenen Vorkehrungen zur Sicherung des Bestands des Arbeitsplatzes verpflichten, wenn der erweiterte Behinderungsbegriff erfüllt wird (9). Beispiel: Ein Arbeitnehmer ist alkoholkrank, lebt allerdings trocken. Er arbeitet in einer Arbeitsgruppe, die auf seine Disposition keine Rücksicht nimmt und ihn immer wieder zum Alkoholkonsum animiert. Die in der krankhaften Disposition liegende Behinderung wird durch die Einstellung der Arbeitskollegen nach Art einer Wechselwirkung verstärkt. Der Arbeitnehmer kann eine Versetzung in eine tolerante Arbeitsgruppe verlangen. Ist die Alkoholkrankheit als Schwerbehinderung anerkannt, kann der Arbeitnehmer nach § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 4 SGB IX einen gesetzlichen Anspruch auf eine behinderungsgerechte Arbeitsplatzgestaltung geltend machen. Er kann deshalb die Zuweisung eines Arbeitsplatzes in einer anderen Arbeitsgruppe verlangen, die sich tolerant verhält.
     
  3. Für das Benachteiligungsverbot: Nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in Verbindung mit §§ 3, 15 AGG hat ein Arbeitgeber, der unmittelbar oder mittelbar einen schwerbehinderten Bewerber wegen einer Behinderung benachteiligt, Entschädigung und Ersatz des Vermögensschadens zu zahlen. Das gleiche gilt nach §§ 1, 3, 15 AGG, wenn der Arbeitgeber einen "einfach“ behinderten Bewerber benachteiligt. Beispiel: Der Arbeitgeber lehnt eine stark übergewichtige (adipöse) Bewerberin nicht wegen Bedenken gegen die Erfüllung der Arbeit, sondern deswegen ab, weil er besorgt ist, dass die männliche Kollegenschaft nicht mit übergewichtigen Frauen zusammenarbeiten will. Hier stellt sich die Behinderung in Wechselwirkung zwischen körperlicher Beeinträchtigung und Vorurteilen der Kollegenschaft dar.
      
  4. Für das Kündigungsrecht in den ersten sechs Monaten: §§ 1,7 AGG enthalten ein allgemeines Verbot, einen Menschen wegen der Behinderung zu benachteiligen. § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX enthält ein spezielles Verbot der Benachteiligung gegenüber einem schwerbehinderten Menschen, das im Unterschied zum allgemeinen Verbot auch mit der Verbandsklage geltend gemacht werden kann. Die Unwirksamkeitsfolge aus § 134 BGB ist entgegen eines Teils des Schrifttums (10) auch bei Kündigungen anwendbar: Eine ordentliche Kündigung, die einen Arbeitnehmer, auf den das Kündigungsschutzgesetz noch keine Anwendung findet, aus einem der in § 1 AGG genannten Gründe diskriminiert, ist nach § 134 BGB in Verbindung mit § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG unwirksam. § 2 Abs. 4 AGG steht dem nicht entgegen (11). Das hat Auswirkungen. Beispiel: Soll in der Probezeit einem Arbeitnehmer gekündigt werden, der an einer symptomlosen HIV-Infektion leidet, so ist die Kündigung auch als behinderungsbedingt anzusehen, wenn nicht wegen der Erkrankung sondern wegen der Abneigung der Belegschaft, mit dem Erkrankten zusammenzuarbeiten gekündigt wird.

(1)  Zustimmungsgesetz vom 21.12.2008, BGBl II 2008, 1419, nach Hinterlegung der Ratifikationsurkunde für Deutschland in Kraft seit 26.03.2009, BGBl II 2009, 812
(2) vgl. BT-Drs. 18/9522, S. 227
(3)  Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009, ABl. 2010, L 23, S. 35
(4)  Benachteiligung wegen einer Behinderung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (EGRL78/2000)
(5)  Vgl. EuGH 18.12.2014 - C-354/13 – Rn 53 „Adipositas des Arbeitnehmers“ NZA 2015, 33; EuGH 18.3.2014 - C-363/12 - Rn. 37 bis 39, Rn. 76, „Leihmutterschaft bei Gebärmutterverlust“ NZA 2014, 525.
(6)  EuGH 18.12.2014 - C-354/13 – Rn 53 „Adipositas des Arbeitnehmers“ NZA 2015, 33
(7)  Vgl. BSG 30.9.2015 – B 3 KR 14/14 R – Rn. 19, SozR 4-2500 § 33 Nr 48 = SuP 2016, 235; BAG 19.12. 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn 53, BAGE 147, 60.
(8)  BAG 19.12. 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn 53, BAGE 147, 60.
(9)  Busch, AiB 2015, Nr 5, 59.
(10) Adomeit/Mohr AGG 2. Aufl. § 2 Rn. 230; Bauer/Göpfert/Krieger AGG 3. Aufl. § 2 Rn. 62.
(11) BAG 19.12. 2013 – 6 AZR 190/12 –, BAGE 147, 60; Düwell, jurisPR-ArbR 9/2014 Anm. 1.

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