Auf dem Weg zu einem inklusiven Arbeitsmarkt?

von: Prof. Franz Josef Düwell, VRi BAG aD

Düwell, Franz Josef

Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts vom 6.6.2023 soll die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen und insbesondere auch von schwerbehinderten Menschen am Arbeitsleben verbessern. Ob dies gelingt, ist zweifelhaft, denn der Staat überlässt die Rechtsdurchsetzung den Betroffenen und gibt deren Interessenvertretungen zwar ein Mandat, aber keine Rechte.

1. Einführung der Pflicht zur Schwerbeschädigtenbeschäftigung


Mit dem Schwerbeschädigtengesetz vom 6. April 1920 schuf die Deutsche Nationalversammlung in Weimar die erste gesetzliche Grundlage für die Arbeitgeberpflicht, Menschen mit schweren Behinderungen, die aus dem Krieg oder aus Arbeitsunfällen herrührten, zu beschäftigen. Zur Durchsetzung dieser sozialpolitischen Errungenschaft, mit deren Hilfe die hohe Arbeitslosigkeit dieses Personenkreises bekämpft werden sollte, setzte der Gesetzgeber auf zwei Instrumente:

1. Es wurde das noch heute bestehende Umlagesystem eingeführt, mit dem die Lasten der behinderungsgerechten Beschäftigung auf alle beschäftigungspflichtigen privaten Unternehmen und öffentlichen Dienststellen umgelegt wurden. Ziel dieser als Ausgleichsabgabe bezeichneten Umlage ist der Kostenausgleich zwischen Arbeitgebern, die schwerbehinderte Menschen beschäftigen und denen, die sie nicht beschäftigen.

2. Es wurde die Arbeitsverwaltung damit beauftragt, für die Durchsetzung der Beschäftigungspflicht zu sorgen. Dazu bestand die Befugnis, Bußgelder gegen die Arbeitgeber festzusetzen, die nicht beschäftigen wollen, und bei beharrlicher Verweigerung mit dem Mittel des Verwaltungszwangs zu Lasten des Verweigerers einen Arbeitsvertrag mit einem/r Arbeitssuchenden abzuschließen.
 

2. Pflicht zur Eingliederung aller schwerbehinderten Menschen


Mit dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) vom 29. April 1974 wurde die staatliche Eingliederungsaufgabe auf alle Menschen mit Schwerbehinderungen ausgedehnt. Seitdem wird nicht mehr nach Art und Ursache der Behinderung unterschieden. Alle Menschen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50 oder mit einer Gleichstellung sollen in Arbeit, Beruf und Gesellschaft eingegliedert werden. Das System der Beschäftigungspflicht wurde jedoch geschwächt. Die Befugnis der Landesarbeitsämter zur Zwangseinstellung wurde mit der lapidaren Begründung gestrichen, sie habe wenig praktische Bedeutung erlangt.   

3. Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts


Mit dem Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts vom 06.06.2023 will die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP den Schutz der Schwerbehinderten in Richtung Inklusion fortentwickeln. Ziel ist: Die volle Teilhabe aller schwerbehinderten Menschen im Betrieb bzw. in der Dienststelle. Der Begriff Eingliederung wurde durch den Begriff Inklusion ersetzt. In der Sache ist jedoch wenig geschehen.

Positiv anzumerken ist: Das System der Ausgleichsabgabe ist durch die Einführung einer vierten Stufe für Arbeitgeber, die keine schwerbehinderten Menschen beschäftigen, weiter ausgebaut. Mit Wirkung zum 01.01.2024 wurde die vierte Staffel für „Null-Beschäftigte“ eingeführt. Dazu ist der bisherige Monatssatz der Ausgleichsabgabe für den unbesetzten Pflichtplatz von 360 Euro auf 720 Euro verdoppelt worden. Damit soll ein spürbarer Anreiz zur Beschäftigung für die 45.000 beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber gesetzt werden, die keinen einzigen Pflichtplatz besetzen. Dieses Defizit will der Gesetzgeber nicht mehr hinnehmen. Das ist positiv.

Negativ ist jedoch die Abschaffung der Bußgeldsanktion. Soweit Arbeitgeber ihre Beschäftigungspflicht schuldhaft nicht oder nicht in vollem Umfang (Beschäftigung auf weniger als 5 % der Arbeitsplätze) erfüllten, wurde diese Unterlassung nach § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX als Ordnungswidrigkeit geahndet. Als Sanktion drohte ein Bußgeld bis 10.000 Euro. Diese Sanktionsmöglichkeit wurde vom federführenden Bundesarbeitsministerium als „nicht mehr angemessen“ und sogar kontraproduktiv angesehen. Der Gesetzgeber ist dieser Sicht gefolgt und hat die Sanktion mit Wirkung zum 01.01.2024 abgeschafft. 

4. Privatisierung der Rechtsdurchsetzung


Trotz Wegfalls der staatlichen Sanktionierung behält jedoch die in § 154 SGB IX geregelte Pflicht, auf wenigstens 5 % der Arbeitsplätze schwerbehinderte oder gleichgestellte Menschen zu beschäftigen, noch eine arbeitsrechtliche Bedeutung. Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht kommt nämlich das sog. „Freikaufen“ von der Beschäftigungspflicht durch die Zahlung der Ausgleichsabgabe nicht in Betracht. Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts vom 06.06.2023 hat nämlich die klare Formulierung in § 160 Abs. 1 S. 2 SGB IX „Die Zahlung […] hebt die Pflicht nicht auf“ nicht abgeändert. Wer als Arbeitgeber seine Pflicht nicht erfüllt, setzt eine Vermutung dafür, dass er bei Bewerbungen und Vermittlungsangeboten der Arbeitsagentur schwerbehinderte Menschen benachteiligt. Abgelehnte Bewerber*innen können sich deshalb, wenn sie Ansprüche aus § 15 Abs. 1 und 2 AGG wegen behinderungsbedingter Benachteiligung geltend machen wollen, auf die Vermutung einer Benachteiligung i. S. v. § 22 AGG berufen. Insoweit hat der Staat mit dem Gesetz vom 06.06.2023 letztlich die Sorge für die Einhaltung der Mindestbeschäftigung privatisiert. Ob dies für kleine und mittlere Arbeitgeber vorteilhaft sein wird, mag bezweifelt werden. Es ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Entschädigungsklagen zunehmen wird. Das führt jedoch nicht zu mehr Inklusion. Es führt vielmehr dazu, dass sich ein lukratives Geschäftsfeld für auf Entschädigungsklagen spezialisierte schwerbehinderte Bewerber*innen auftut. Da aber nach § 15 Abs. 6 AGG nur auf Entschädigung nicht aber auf Einstellung geklagt werden kann, führt dieser Weg nicht zu mehr Teilhabe am Arbeitsleben.
 

5. BR und SBV als Inklusionshelfer mit Mandat aber ohne Macht


Nach dem Rückzug des Staats stehen den Betroffenen nur die betrieblichen Interessenvertretungen zur Seite. Der Betriebsrat hat nach § 176 Satz 2 SGB IX darauf zu achten, dass der Arbeitgeber seine Mindestbeschäftigungspflicht erfüllt. Diese Überwachungsaufgabe hat nach § 178 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB IX auch die SBV. Beide Interessenvertretungen können jedoch eine Nichterfüllung nur beanstanden. Sie haben keine Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten, es fehlt ein Klagerecht. Allerdings steht dem Betriebsrat ein noch wenig bekanntes „weiches“ Instrument zur Förderung der Inklusion zur Verfügung. Dieses ist in der durch das Bundesteilhabegesetz 2016 eingefügten Vorschrift des § 92 Abs. 3 S. 2 BetrVG enthalten. Danach hat der Arbeitgeber den Betriebsrat jährlich über Maßnahmen zur Eingliederung schwerbehinderter und gleichgestellter Menschen anhand von Unterlagen rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und sich mit dem Betriebsrat zu beraten. Dies gilt insbesondere für die Frage, welche geeigneten Maßnahmen ein Arbeitgeber ergreift, um nach § 164 Abs. 3 SGB IX sicherzustellen, dass er wenigstens die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen behinderungsgerecht beschäftigt. Die Einhaltung dieser dem Arbeitgeber obliegenden Unterrichtungspflicht ist nach § 121 BetrVG bußgeldbewehrt. Sie ist auch im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG durchsetzbar.